Zuletzt aktualisiert: 07.10.2025

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Tipp: Die komplette Interview – in voller Länge – mit Prof. Dr. Sönke Neitzel finden Sie auf dem YouTube-Kanal der Union StiftungHier klicken, um das Video „Wehrpflicht 2025 für die Bundeswehr: Warum Freiwilligkeit nicht ausreicht? | Prof. Dr. Sönke Neitzel“ anzusehen.

Wie viele Soldaten braucht Deutschland für seine Sicherheit?

Die Bundeswehr steht vor der Herausforderung, ihre Truppenstärke drastisch erhöhen zu müssen. Verteidigungsminister Boris Pistorius kündigte an, bis zu 260.000 aktive Soldaten und 200.000 Reservisten aufstellen zu wollen. Doch derzeit fehlen allein 80.000 Soldaten – ein Ziel, das ohne neue Rekrutierungsmodelle kaum erreichbar scheint.

Dabei stellt sich zunehmend die Frage, ob eine rein freiwillige Armee den Anforderungen moderner Sicherheitspolitik überhaupt noch gerecht wird. Die Bundeswehr kämpft mit Abgängen, Nachwuchsmangel und veralteter Personalstruktur. Die geplante Truppenaufstockung ist angesichts dieser Probleme realistisch nur mit einer Auswahlpflicht für junge Menschen erreichbar.

Was sagt die Wiedereinführung der Wehrpflicht über Deutschland aus?

Viele fragen sich: „Was würde eine Rückkehr zur Wehrpflicht für unsere Außenwirkung bedeuten?“ Professor Sönke Neitzel sagt deutlich: Wenn 82 Millionen Bürger es nicht schaffen, 5 % eines Jahrgangs zum Dienst zu verpflichten, ist das kein Zeichen von Wehrhaftigkeit, sondern von politischem Unwillen – ein gefährliches Signal nach außen.

Gerade gegenüber einem aggressiven Russland komme es darauf an, Glaubwürdigkeit und Entschlossenheit zu zeigen. Die Wehrpflicht wäre nicht nur ein sicherheitspolitisches Werkzeug, sondern ein strategisches Zeichen: Deutschland meint es ernst mit seiner Verteidigungsbereitschaft – auch innerhalb der NATO-Strukturen.

Warum wurde die Wehrpflicht abgeschafft – und war das ein Fehler?

Die Wehrpflicht wurde 2011 ausgesetzt – in einer Zeit, in der asymmetrische Auslandseinsätze wie in Afghanistan dominierten. Man glaubte, mit einer kleinen, spezialisierten Armee auszukommen und wollte außerdem sparen. Für Auslandseinsätze war dieses Modell damals tragfähig.

Doch spätestens mit dem Ukrainekrieg zeigt sich, dass Deutschland die Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung verloren hat. Die damalige Entscheidung war aus Sicht der damaligen Bedrohungslage nachvollziehbar, im Rückblick jedoch ein strategischer Fehler. Die sicherheitspolitische Realität hat sich fundamental gewandelt.

Wie hat sich die Gesellschaft durch die Aussetzung verändert?

Viele stellen heute die Frage: „Hat das Ende der Wehrpflicht die Bundeswehr von der Gesellschaft entfremdet?“ Die Antwort ist differenziert. Zwar ist die Armee immer noch Teil der Gesellschaft – Soldaten haben Familien, Freunde, Hobbys wie alle anderen. Doch die symbolische Verbindung durch die Pflicht ist verloren gegangen.

Gerade das Konzept des Staatsbürgers in Uniform war über Jahrzehnte ein Bindeglied. Die Wehrpflicht förderte nicht nur Sicherheit, sondern auch gesellschaftliche Integration und den zivilgesellschaftlichen Diskurs über militärische Verantwortung. Ohne sie hat sich die Armee in vielen Regionen sogar physisch zurückgezogen.

Wäre eine europäische Armee die bessere Lösung?

Immer wieder hört man: „Wäre eine europäische Armee nicht effektiver als viele kleine nationale Streitkräfte?“ Die Antwort darauf lautet: In der Theorie vielleicht, in der Praxis kaum. Unterschiedliche Sprachen, Kulturen, Sicherheitsinteressen und nationale Souveränitäten machen die Umsetzung nahezu unmöglich.

Professor Neitzel erklärt, warum es beim Heer nicht funktioniert: In Litauen etwa arbeiten multinationale NATO-Bataillone – doch Sprachbarrieren und unterschiedliche militärische Standards führen dort zu massiven Koordinationsproblemen. Die NATO funktioniert besser, weil sie auf nationalen Strukturen basiert, die dann in gemeinsamen Operationen zusammengeführt werden.

Was müsste sich an der Bundeswehr ändern – außer der Wehrpflicht?

Die Wehrpflicht allein wird die Probleme der Bundeswehr nicht lösen. Aktuell gibt es etwa 30.000 Soldaten in Ämtern und Verwaltungen, die militärisch nicht mehr sinnvoll eingesetzt werden können. Sie blockieren Ressourcen und verhindern eine Verjüngung der Truppe.

Zusätzlich braucht es massive Investitionen in digitale Kampfführung, Drohnentechnologie und Softwareentwicklung. Die Lehren aus der Ukraine zeigen: Ohne technologische Fähigkeiten ist moderne Kriegsführung nicht mehr möglich. Doch selbst modernste Technik nützt wenig, wenn es an ausgebildetem Personal fehlt – hier schließt sich der Kreis zur Wehrpflicht.

Fazit: Ist die Wehrpflicht die richtige Antwort auf neue Bedrohungen?

Wer fragt: „Braucht Deutschland heute wirklich wieder eine Wehrpflicht?“, sollte sich die geopolitische Realität anschauen. Ohne eine Mischung aus Technologie, Personalreform und Wehrpflicht ist Deutschland weder verteidigungsfähig noch ein verlässlicher NATO-Partner. Die Diskussion ist nicht ideologisch, sondern sicherheitsstrategisch notwendig.

Der Vorschlag von Prof. Neitzel ist pragmatisch: Einführung einer Auswahlpflicht für 5 % eines Jahrgangs, Umstrukturierung der Personalbestände und gleichzeitige technologische Modernisierung. Politik muss hier mutig führen, nicht folgen – sonst diskutieren wir in zehn Jahren immer noch, während andere längst handeln.

Prof. Dr. Sönke Neitzel

Prof. Dr. Sönke Neitzel ist Militärhistoriker an der Universität Potsdam und einer der führenden Experten für die Geschichte der Bundeswehr. In seinem Buch „Die Bundeswehr“ analysiert er anlässlich des 70. Jubiläums der Truppe deren Entwicklung seit 1955. Besonders seit dem 24. Februar 2022 – dem Beginn des Ukrainekriegs – stellt er zentrale Fragen: Was kann die Bundeswehr heute leisten, was muss sie können und warum ist sie in ihrem aktuellen Zustand? Neitzels Werk bietet fundierte Einblicke in die militärische, politische und gesellschaftliche Rolle der Bundeswehr in Deutschland.