Zuletzt aktualisiert: 30.03.2023

Ein Reisebericht aus Israel

Jerusalem/Bethlehem/Tel Aviv – Israel, ein Land kaum größer als das Bundesland Hessen, das seit Jahrtausenden konfliktbeladen ist und im Fokus des Weltgeschehens steht. Ein Land, das unverrückbarer Bestandteil und Kern dreier Weltreligionen ist. Ein Land, das eine Anziehungskraft ausstrahlt, wie es kaum ein anderer Fleck auf der Erde vermag und um dessen Willen sich jedes Jahr zehntausende Menschen auf den Weg machen und hunderte und tausende Kilometer zurücklegen. Aber auch ein Land, um dessen Willen viele bereit sind, zu kämpfen.

Zur Gruppe derer, die der Anziehungskraft Israels erlegen sind und sich auf den Weg dorthin gemacht haben, gehören seit März auch 14 junge Erwachsene aus dem Saarland, die im Rahmen einer Studienreise, organisiert von der Union Stiftung, nach Israel geflogen sind. Ziel dieser Reise war es nicht nur, der Faszination Israels und seiner historischen und biblischen Stätten nachzuspüren, sondern vor allen Dingen die politische Landschaft und die Geschichte des Staates Israel kennen zu lernen sowie die aktuellen Herausforderungen, die Probleme und deren Lösungsansätze. Den jungen Menschen sollte aber auch die Möglichkeit gegeben werden, einen Einblick in die Wirtschaft dieses im Verhältnis zu Deutschland kleinen, auf Wachstum ausgerichteten Landes zu erhalten.

Tag 1 – Jerusalem

Es ist noch früh am Morgen als ein Ruf die Stille der Nacht über Jerusalem zerreißt. Ein Ruf zu Ehren Gottes: Der Muezzin der nächstgelegenen Moschee, von denen es zahlreiche in ganz Jerusalem gibt, ruft die Gläubigen zum Gebet: Jerusalem ist eine muslimische, eine arabische Stadt. Davon zeugen nicht nur die hohen Türme, von denen der Gebetsaufruf erschallt. Hinter den hohen Mauern aus gelbem Sandstein mit ihren Zinnen und Schießscharten säumen Händler die engen Gassen der historischen Altstadt. Hier presst sich Geschäft an Geschäft, die Händler sitzen oder stehen davor, unterhalten sich miteinander oder versuchen ihre Waren an die zahlreichen Touristen zu verkaufen. Es ist eng. Es ist bunt. Es ist laut. Man kommt sich vor wie in einem Märchen aus 1001 Nacht, hier im arabischen Viertel der Stadt, das direkt hinter dem prächtigen Damaskus-Tor liegt. Das Viertel und die gesamte Altstadt sind Teil von Ost-Jerusalem, einen Unterschied, den man als Tourist nicht merkt, weil es um die Altstadt herum keine Checkpoints, Zäune oder Grenzübergänge gibt. Aber ein Unterschied, der für die Menschen, die hier leben, von großer Bedeutung ist.

Die große Synagoge in der Altstadt Jerusalem
Die große Synagoge in der Altstadt von Jerusalem
Markt und Altstadt in Jerusalem
Markt und Altstadt in Jerusalem

Ost-Jerusalem ist besetztes Gebiet. Als solches zumindest bezeichnen es die Europäische Union und die Vereinten Nationen. Wer durch die Gassen der historischen Altstadt spaziert, bekommt von einer Besetzung jedoch nichts mit. Zwar stehen immer wieder Soldaten mit schweren Waffen an den kleineren und größeren Plätzen, doch sie bestimmen nicht das Gesamtbild. Im alten Jerusalem sieht man orthodoxe Juden mit ihren schwarzen Kleidern und ihren hohen Hüten durch das arabische Viertel spazieren. Hier ertönt der Ruf des Muezzins während sich Juden in der großen Synagoge zum Gebet versammeln. Denn Jerusalem ist auch eine jüdische Stadt. Davon zeugen nicht nur das Gebetshaus, oder die Klagemauer. Ultraorthodoxe Juden mit ihrer typischen Tracht, der schwarzen Kleidung, den weiten Hüten und den Locken prägen das Stadtbild und machen es unverkennbar zu einer Stadt der Juden.

Gleichzeitig ist zumindest die historische Altstadt auch eine christliche Stadt. Die Grabeskirche wimmelt von Christen aller Konfessionen aus aller Herren Länder, die zum Beten und Staunen hergekommen sind und tausend Sprachen durcheinander murmelnd durch das große Portal treten, dessen Schlüssel sich in der Hand zweier muslimischer Familien befinden. Drei große Religionen und zahlreiche Konfessionen teilen sich diese Stadt, leben hier miteinander und kommen zusammen.

Grabeskirche Jerusalem, Israel

Und doch herrscht bei diesem funktionierenden Zusammen-, oder vielmehr Nebeneinanderleben keine lockere und entspannte Atmosphäre. Kaum jemand geht durch die Gassen, ohne nicht ständig einen Blick über die Schultern zu werfen, ohne nicht diese gewisse Spannung, die in der Luft liegt, zu verspüren. Jedem ist klar, wo er oder sie sich hier befindet. Denn Jerusalem ist und bleibt auch ein Zankapfel, Kern eines Konfliktes, der weit über die alten Stadtmauern hinaus geht. Ein Konflikt, der manchmal sichtbar wird, aber meistens ein unbestimmtes, schwer greifbares, mulmiges Gefühl bleibt. Zumindest für Touristen. Sicht- und auch ein Stück greifbarer wird der Konflikt, wenn man sich weiter hinein nach Ost-Jerusalem wagt, oder darüber hinaus geht. Nach Bethlehem zum Beispiel.

Tag 2 – Bethlehem

Wie eine graue Schlange liegt die Mauer da. Starr und unbeweglich als würde sie in der felsigen, zerklüfteten Landschaft vor den Dörfern und Siedlungen schlafen. Sie windet sich die Hügel hinauf und hinunter. Sie beißt nicht, aber sie trennt Israel vom Westjordanland. Sie ist keine Grenze, sondern sie dient der Sicherheit, sagen die Israelis. Im Rahmen der zweiten Intifada (Arabisch für „Aufstand“) der Jahre 2000 bis 2005 gab es in Israel 20.000 Anschläge. In Worten: Zwanzigtausend. In fünf Jahren. Man stelle sich vor, es gäbe in Hessen im Laufe weniger Jahre so viele Anschläge…

Die Mauer dient der Sicherheit. Sie ist kein Grenzzaun, der ein Land von einem anderen trennen soll wie in der DDR. Die Menschen hinter der Mauer können durch die Checkpoints hinein und wieder hinaus. Viele wohnen auf der einen Seite der Mauer und arbeiten auf der anderen. Doch die Mauer trennt auch. Sie schneidet die Menschen zum Teil von ihren Feldern und Olivenbäumen ab, die jetzt jenseits der Mauer liegen und zu denen sie nicht mehr einfach so spazieren können.

Mit dem Bau der Mauer hörten die Anschläge auf. Natürlich gibt es auch weiterhin Anschläge palästinensischer Terroristen in Israel, denn hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht. Aber die Dimensionen sind völlig andere.

Während die Mauer von israelischer Seite aus betrachtet grau und trist erscheint, ist sie auf der anderen Seite zu einer Leinwand geworden: für Kunst und vor allen Dingen dafür, den Protest gegen die in Beton gegossene Beschränkung der Freiheit zum Ausdruck zu bringen. Andere Freiheiten, die diesseits der Mauer eingeschränkt werden, darunter die Freiheit, die eigene Meinung frei zu äußern, die Freiheit zu wählen, oder an einem fairen, demokratischen Prozess aktiv mitwirken zu dürfen, finden hingegen keinen Ausdruck: Der Name Abbas fällt hier nicht. Dass Mahmud Abbas, der Anführer der palästinensischen Fatah-Bewegung, quasi diktatorisch die Palästinensergebiete regiert, wird nicht erwähnt und nicht kritisiert, weder an der Mauer noch in den Gesprächen.

Einzig die Wirtschaft scheint für die Menschen ein Ausweg aus dem Konflikt zu sein, doch ihr werden durch Korruption und politische Entscheidungen Steine in den Weg gelegt. Weil es daher kaum eine wirtschaftliche Perspektive für die breite Bevölkerung gibt und weil die politische Perspektive deprimierend unbefriedigend ist, radikalisiert sich eine ganze Generation in Ost-Jerusalem und dem Westjordanland zusehends. Sie hat aufgehört, von einer besseren Zukunft zu träumen, wie es Studenten der Universität Dar al-Kalima in Bethlehem offen und direkt ausdrücken. Sie entschuldigen sich im Gespräch mit den Besuchern aus dem Saarland für diese hoffnungslose Sicht, aber sie wollen die Realität, in der sie leben, nicht schönreden. Gehen wollen sie aber auch nicht, denn sie wollen ihre Familien nicht zurücklassen. Deshalb bleibt für die einen, die es sich leisten können, noch die Flucht in die Kunst. Für die anderen nur die Radikalisierung.

Austausch mit Studenten der Universität Dar al-Kalima in Bethlehem
Austausch mit Studenten der Universität Dar al-Kalima in Bethlehem
Hinter der Mauer in Bethlehem
Hinter der Mauer in Bethlehem

Tag 3 – Tel Aviv

Keine 60 Kilometer, kaum eine Stunde Fahrt mit dem Bus, liegt eine vollkommen andere Welt. Am Strand von Tel Aviv spielen junge Menschen fröhlich lachend Volleyball, joggen unbekümmert an der Strandpromenade entlang, oder sitzen in Cafés und gehen in den großen Hochhäusern ihrer Arbeit nach. Es kommt einem vor, als sei man in einer anderen Welt gelandet. Vielleicht in Barcelona, vielleicht in einer anderen Stadt, weit weg vom Heiligen Land, vom Konflikt, von Mauern und Checkpoints. Eine unsichtbare Last, die sich in Jerusalem und Bethlehem immer weiter aufgebaut hatte, scheint der Gruppe kollektiv von den Schultern zu fallen. Die Blicke sind wacher und das Lachen unbeschwerter. 14 junge Menschen gehen plötzlich befreit durch die Straßen desselben Landes.

Tel Aviv.
Tel Aviv.

Tel Aviv hat gerade einmal die Hälfte der Einwohner Jerusalems. Ultraorthodoxe Juden mit ihrer typischen Kleidung sieht man hier kaum. Nur ab und zu passiert man junge Menschen mit einer Kippa, die einen daran erinnern, dass man in Israel ist und der Ruf des Muezzins, dass das Rauschen des Mittelmeeres hier seine östlichste Grenze gefunden hat.

Nachts sind die Straßen voll, die Bars und Restaurants gefüllt und die Stimmung ist ausgelassen. Die Menschen leben hier in der Gegenwart und machen sich über die Vergangenheit offenbar nur wenige Gedanken. Der Zukunft sehen sie hier positiv entgegen und sind bereit, dafür zu kämpfen – mit politischen, demokratischen Mitteln. Die geplanten Justizreformen der Regierung Benjamin Netanyahus bestimmen die tägliche Diskussionen und die Proteste sind ein Muss für viele.

Die Zukunft bestimmt in Tel Aviv auch zum großen Teil die Arbeitswelt, denn Israel ist innovativ. Hier gibt es eine der größten und lebendigsten Start-Up-Szenen der Welt. Technologien wie Voice-over-IP oder der USB-Stick in israelische Erfindungen. Und fast alles Trinkwasser in Israel ist entsalzendes Meerwasser. Der Nachteil der Knappheit wird in Israel als Innovation in eine neue Stärke verwandelt.

Um an diesem Innovationsprozess teilzuhaben, ermöglicht es die Deutsch-Israelische Auslandshandelskammer jungen Menschen aus Deutschland über das Programm „New Kibbutz“ ein Praktikum in einem israelischen Start-Up zu absolvieren. Eine Chance, die immer öfter wahrgenommen wird – zum Vorteil beider Seiten. Manch einer will nach dem Praktikum gar nicht mehr weg aus Tel Aviv, wie einige der New Kibbutz-Teilnehmer berichten; andere nehmen sich zumindest vor, den israelischen Unternehmergeist und die Kultur, Schwächen in Stärken umzuwandeln, mit zurück nach Deutschland zu bringen.

Wenngleich der Konflikt in Tel Aviv scheinbar weit weg ist: Er ist auf gewisse Art und Weise auch einer der größten Motoren der Innovationskraft Israels. Die israelischen Streitkräfte und insbesondere die Wehrpflicht sind nicht nur essenzieller Teil des Sicherheitskonzepts Israels. Sie sind auch häufig eine Abkürzung in die Arbeitswelt. Wer zum Beispiel seinen Wehrdienst in der Abteilung für Cyber-Abwehr leistet, findet nach dem Dienst häufig auch einen Job in einem Tech-Unternehmen. Neben dem Nachwuchs finden aber auch immer wieder Ideen ihren Weg aus den Streitkräften in die zivile Nutzung.

Knappheit an Ressourcen und der Krieg sind somit zwei wichtige Antriebskräfte der Innovationspower Israels. Hinzu kommen enorm hohe Ausgaben in Forschung und Entwicklung sowie ein großer Pool an Risikokapital für junge Unternehmen. Scheitern ist hier Zeichen der Bewährung und ein zweiter Anlauf bei der Gründung eines Unternehmens wird oft bereitwilliger mit Kapital unterstützt als ein erster Versuch.

Für die 14 jungen Erwachsenen hat sich in Israel eine neue Welt eröffnet. Eine Gesellschaft voller Konflikte, voller Widersprüche, deren Ursachen in der jüngeren genauso wie in der fernen Vergangenheit liegen, und gleichzeitig eine Gesellschaft, die vor Kraft und Risikobereitschaft strotzt, um Neues zu wagen und Probleme aktiv und gemeinsam zu lösen. Zumindest diesseits der Mauer.

Die Gruppe aus dem Saarland hat in Israel vieles gefunden. Vieles was sie erwartet haben und noch vieles mehr, was sie nicht erwartet oder auch nur erahnt haben, finden die jungen Menschen in diesem Land. Aber eine Lösung des Konflikts, der letztlich auch die Mauer zum Einstürzen bringen könnte? Darauf hat niemand eine Antwort gefunden.